Auf vielen Umwegen nach Coburg – Teil II
Dass Krieg war, war uns Kindern überhaupt nicht bewusst, bis eines Tages, nachdem der Briefträger ein schwarz umrandetes Kuvert abgegeben hatte, im ganzen Haus nur noch Trauer herrschte und alle mit tränenverschmierten Gesichtern herumsaßen. Mein Onkel Klaus, den ich überhaupt nicht gekannt hatte, war in Russland gefallen. Das war im Herbst 1944. Dass in der Domäne – einem Gut am Ortsrand – seit längerem schon polnische Arbeiter tätig waren, wussten wir zwar, aber dass das Kriegsgefangene waren, bekamen wir erst jetzt mit, nachdem mehrere von ihnen geflohen waren und die Gespräche der Erwachsenen sich immer mehr um irgendwelche Gefahren und Bedrohungen drehten.
Eines Tages bemerkte auch ich, dass sich die Situation veränderte. Ein Militärfahrzeug fuhr auf dem Kirchplatz vor und alle Männer, die nicht eingezogen worden waren, wurden dorthin bestellt. So auch mein Opa, der, als er zurückkam sagte, er gehöre jetzt zum „Volkssturm“ und sie müssten in den nächsten Tagen Panzersperren an den beiden Straßenbrücken an den Ortseingängen errichten. Ich glaube mich zu erinnern, dass nie etwas daraus geworden ist. Einige Tage später merkte ich, dass in dem Schuppen, der zum Haus gehörte, merkwürdige Dinge geschahen. Als ich durch einen Schlitz in der Bretterwand lugte, sah ich, wie mein Opa, meine Mutter und ein älteres Ehepaar, das im Hinterhaus des Anwesens meines Großvaters wohnte, ein großes Loch gruben. Daneben stand ein altes Öl- oder Benzinfass. Das Ganze zog sich über mehrere Tage hin und erregte meine ganze Aufmerksamkeit. Eines vormittags dann trugen die Beteiligten teils in Tücher, teils in Packpapier gewickelte Pakete in den Schuppen. Diese wurden sorgsam in dem Fass verstaut, welches dann mit einem Deckel verschlossen und in das Loch hinab gelassen wurde. Anschließend wurde das Loch wieder zugeschüttet, die Erde festgestampft und der Rest auf dem angrenzenden Acker verstreut. In dem Fass waren lauter Wertgegenstände verstaut, wie Schmuck, Silberbesteck, Leuchter u. ä., um es irgendwann einmal wieder auszugraben. Wenn es die dort angesiedelten Polen nicht gefunden haben, liegt es heute noch dort.
Aus einem Turmfenster der Dorfkirche, die ich vom Hof aus sehen konnte, hing eines Tages plötzlich eine weiße Fahne und wenige Tage später fuhren Panzer durch das Dorf und fremde Soldaten zogen plündernd von Haus zu Haus und nahmen alles mit, was ihnen wertvoll erschienen war. Meine Mutter und ihre zwei Jahre ältere Schwester hatten sich auf dem Dachboden versteckt und uns Kindern wurde eingeprägt, nur ja nichts zu sagen. Es waren Tschechen und Polen, die als erste Besatzer in unser Dorf gekommen waren. Später, auch als die Tschechen und Polen von Russen abgelöst worden waren und sich Soldaten dem Haus näherten, rannten wir Kinder immer ins Haus, zogen die Schubladen aus den Schränken und verstreuten einen Teil des Inhaltes auf dem Boden, sodass es aussah, als wären gerade schon andere Soldaten da gewesen, um nach Brauchbarem zu suchen.