„….187, 188 mein Urgroßvater hatte Recht“, stellt Markus Wächter schnaufend fest. Er hat gerade die Stufen gezählt, die auf den Turm der Morizkirche hinauf führen. Er hätte sich gewundert, wenn die Zahl nicht gepasst hätte. Wächters Urgroßvater hieß Karl Götz. Er war Türmer, der letzte Wächter auf dem Morizturm.
Es gibt auch eine Angabe, nach der es 175 Stufen sein sollen und anderswo ist von 200 die Rede. Aber Wächter zweifelte nie an der Richtigkeit der 188 (wobei vier Steinstufen nicht jeder mitzählt). -wer hätte es genauer wissen können, als der Mann, der während 16 Jahren Tausende Male auf den Turm stieg, um über die Dächer der Stadt zu blicken, wenn er ein Feuer oder eine Missetat entdeckte.
Seit einiger Zeit betriebt Markus Wächter Ahnenforschung. Dabei fand er heraus, dass sein 1875 geborener Vorfahr bis 1945 nachts den Dienst auf dem Turm versah, wie bereits sein Vater vor ihm. Um 22 Uhr im Sommer und um 21 Uhr im Winter stieg der gelernte Schreiner hinauf in die Türmerstube. Dort blieb er und spähte immer wieder über die Dächer von Coburg nach dem „Roten Hahn“. Um 4 Uhr im Sommer und um 5 Uhr im Winter stieg er die enge Wendeltreppe wieder hinab. Gerne gibt Gerhard Eckerlein vom Bauamt den Schlüssel heraus, damit ein Nachfahr des „Götzn Karl“ die Wirkungsstätte seines Urgroßvaters und dessen Vorfahren einmal betreten kann. Mit einem Schmunzeln stellt er fest: „Sie heißen Wächter? Na, das passt ja“: Er kennt sogar einen Spruch des zu Lebzeiten sehr bekannten und beliebten Türmers „Wenn a Tüüter erst a mol draußen is, kammer na nümmer nei getu!“ Den Tüüter machte Karl Götz mit seinem Horn, wenn es eine Gefahr zu melden galt. Der Spruch meint den 13. Tüüter, falls der Türmer sich einmal um Mitternacht verzählte. In Coburg sollen das Zitat noch immer Leute benutzen, wenn sie sagen wollen, dass sich etwas nicht mehr ändern lässt.
Ein wenig andächtig betritt der Rödentaler Markus Wächter heute die Turmzimmer der Coburger Morizkirche. Ein alter Bettrahmen aus Metall soll noch aus Zeiten seines Urgroßvaters dort stehen. Ein grob gefertigter Stuhl ist gewiss alt genug. Er wäre unbequem hoch, hätte man nicht an den Vorderbeinen zwei Stützen angebracht, auf die man Füße stellen kann. Eine Arbeit des Schreiners Karl Götz? Vielleicht. Wahrscheinlich sogar. So, wie er jetzt ist, erlaubt es der Stuhl, bequem aus den Fenstern zu sehen.
Wenn Wächter darauf sitzt und aus der Wachstube über Coburg blickt, stellt er fest:“ Da wird sich gar nicht so viel verändert haben, seit der Uropa da rausgeschaut hat!“ In der Altstadt sicher nicht, über die der Blick im Rund schweift. Ungewohnt ist es, so von oben auf den Marktplatz zu schauen, die Dachgärten und die Hinterhöfe der alten Gebäude unter sich zu haben und über die Ehrenburg hinweg zur Veste hinauf zu sehen.
Ein hölzernes Plumpsklo gibt es auf dem Turm und er war früher auch beheizbar. Ein alter Schrank, eine Halterung – vielleicht für einen Feuerlöscher: Einiges erinnert noch an den letzten „Nachtschutzmann“ auf dem Turm der Morizkirche. Der Urenkel gäbe etwas darum, einmal so einen „Tüüter“ zu hören, mit dem Karl Götz alle Viertelstunde der Stadt kundtat, dass er da war und wachte. Aber die Hörner der Türmer sind inzwischen Museumsstücke geworden. Und bliese heue einer hinein -es wäre nicht derselbe Tüüter.
Karl Götz selbst tütete 1956 zum letzten Mal vom Morizturm. Anlass war die 900-Jahrfeier der Stadt Coburg. Seinen Dienst auf dem Turm hatte er von 1919 bis 1920 erstmals versehen. Dann wurde er als Nachtschutzmann eingesetzt. Von 1930 bis 1945 saß er wieder Nacht für Nacht in der Turmstube. Mit Kriegsende wurde der Dienst eingestellt. Karl Götz starb 1959 in Coburg.