Auf vielen Umwegen nach Coburg – Teil III
Uns Kindern gegenüber waren die russischen Soldaten sehr freundlich und da wir ja immer Hunger hatten, denn zu essen gab es nicht viel, fütterten sie uns mit Zucker, den sie in Tafeln, die wie Schokoladentafeln aussahen, immer bei sich hatten. Einmal durfte ich auf einem Kanonenrohr sitzend mit zu einer Schießübung fahren, die sie auf einem Feld in der Nähe des Dorfes veranstalteten. Meine Mutter schwitzte Blut und Wasser, bis ich wieder zurück war. Andererseits waren diese Soldaten aber auch sehr rabiat und brutal. Als wieder einmal so eine Horde auf das Haus zukam, stellte sich meine Oma ihnen im Hausflur in den Weg. Daraufhin bekam sie einen Schlag mit einem Gewehrkolben auf den Kopf und brach zusammen. Ich stand unmittelbar daneben, weil ich gerade wieder die Schubladen herausgezogen hatte. Seit diesem Tag war meine Oma bis zu ihrem Tod halbseitig gelähmt. Diesen Moment werde ich nie vergessen! Erst Jahre später konnte sie sich in der Wohnung von Möbelstück zu Möbelstück wieder allein bewegen oder aufgestützt auf einen anderen ein kleines Stück draußen spazieren gehen.
Und dann kam der Tag, es war im Frühjahr 1946, an dem wir mit nur wenigen Habseligkeiten, was man halt so tragen konnte, zum Bahnhof getrieben wurden. Dabei waren meine Uroma, meine Großeltern, wobei meine Oma vom Roten Kreuz auf einer fahrbaren Trage transportiert wurde, meine Mutter, meine Schwester und meine Tante, die mit im Haus gewohnt hatte. Dort stand ein Güterzug, in den wir verladen wurden. Die Schiebetür stand einen Spalt weit offen und war von außen verriegelt. In einer Ecke des Viehwaggons war in den Boden ein Loch geschnitten, das als Toilette dienen musste. In der Mitte stand ein Kanonenofen, daneben ein Haufen Brennholz. Weitere Einzelheiten erspare ich mir, aber ich erinnere mich ganz genau. Die „Toilette“ wurde dann mit ein paar Tüchern und Decken etwas abgeteilt. Ich muss zugeben, dass ich großen Spaß daran hatte, während der Fahrt beim Pinkeln durch dieses Loch zu zielen, was nicht immer unfallfrei vor sich ging. Wohin die Fahrt ging, wusste niemand, aber sie dauerte mehrere Tage. Ab und zu hielt der Zug, meistens auf freiem Feld, die Türen wurden geöffnet und wir durften für eine gewisse Zeit draußen herum laufen; streng bewacht von russischen Soldaten, die in einem eigenen Personenwaggon den Zug ständig begleiteten. Unsere Oma, die in einem Sanitätswaggon am Ende des Zuges lag, zusammen mit anderen Kranken und Gebrechlichen, durften wir nicht besuchen.
Irgendwann hielt der Zug in einem großen Bahnhof. Die Halle und die einzelnen Gebäude waren stark beschädigt. Meine Mutter hatte meine Schwester und mich mit einer Schnur, die sie sich um den Bauch gewickelt hatte, an sich gebunden, als wir aussteigen mussten. Die russischen Soldaten versuchten mit lautem Geschrei für Ordnung zu sorgen, was allerdings nur bedingt gelang, da niemand verstand, was sie eigentlich wollten. Es herrschte ein fürchterliches Durcheinander, denn außer unserem Zug standen noch weitere Züge in dem Bahnhof und die Menschen, ich hatte noch nie so viele auf einmal zusammen gesehen, wuselten hin und her und die Russen brüllten. Es war fürchterlich. Irgendwie wurden wir dann in einen Raum gedrängt, in dem Rote Kreuz-Schwestern mit so komischen Geräten, die aussahen wie Staubsauger, herum hantierten. Wir mussten unsere Mäntel ablegen und dann bliesen die Schwestern mit einem Schlauch weißes Pulver in die Ärmel, in die Hosenbeine und in die Haare. Entlausung nannte man diese Prozedur. Ich fand das trotz allem recht lustig, meine Mutter allerdings nicht, da sie Angst hatte, meine Schwester und mich in dem Gedränge zu verlieren, da sie die Schnur hatte lösen müssen. Aber es ging alles gut. Mir war schon die ganze Zeit auf dem Bahnsteig so ein unbekannter Duft in die Nase gestiegen. Die Russen dirigierten uns dann in ein anderes Gebäude und da gab es plötzlich etwas, Essen. So gut hatte mir seit Langem nichts mehr geschmeckt, was bei dem Hunger, den wir hatten, auch kein Wunder war. Es gab Krautsuppe – in Wasser gekochte Weißkrautblätter mit etwas Kümmel drin. Köstlich! Dann trieben uns die russischen Soldaten wieder zu unserem Zug. Von unseren Verwandten war schon seit einiger Zeit nichts mehr zu sehen, aber wir mussten einsteigen. Plötzlich waren auch andere Personen in dem Waggon, die bis hierher nicht mitgefahren waren. Meine Mutter hatte noch versucht, von den Leuten des Roten Kreuzes etwas über unsere Angehörigen zu erfahren, aber die wussten auch nichts und mit den Russen war sowieso nicht zu reden. So setzten wir also unsere Fahrt ins Ungewisse zu dritt fort. Jedesmal, wenn der Zug jetzt in einem Bahnhof hielt, wurde der letzte Waggon abgekuppelt, was man durch den Türschlitz beobachten konnte. Schließlich war auch unser Waggon dran und wir waren in Leer in Ostfriesland gelandet.