Brief an meinen Vater
In diesen Tagen wird in den Medien immer wieder über den Ausbruch des ersten Weltkrieges vor 100 Jahren berichtet. Der Krieg hatte auch auf unsere Familie Auswirkungen und nachdem mein posthumer Brief an Mutti mir viel Anerkennung und Freude gebracht hat, möchte ich auch dir solch rückschauende Zeilen widmen.
Lieber Papa,
du warst für uns fünf Kinder der ideale Vater. Wie kein anderer hast du deine Kinder geliebt und wurdest von uns geliebt. Besonders die Mädchen waren alle Papa-Kinder.
Mir fiel schon sehr früh auf, dass man mit dir etwas anfangen konnte. Zum Beispiel machte es mir großen Spaß dir fabelhafte Fragen zu stellen, denn du hattest immer eine Antwort parat, auch dann, wenn du dir nicht ganz sicher warst. Im Frühjahr machtest du mit uns Wanderungen, damals nannte man das noch Maientour. Sehr oft ging es nach Klein Amerika. An vielen Sonntagen hast du uns herrliche Braten gekocht, auch wenn Mutti nicht immer mit deinem Würzen einverstanden war.
Du warst das Bild eines Vaters, weshalb viele Jungs aus der Nachbarschaft zu mir sagten, dass sie auch gerne solch einen Papa gehabt hätten. Du hattest eine kraftvolle, ruhige, sichere Hand, was man beobachten konnte, wenn du ein Huhn oder einen Hasen geschlachtet hast. Noch in beträchtlichem Alter kauftest du dir eine Hobelbank, daran sah man, dass du mit Leib und Seele Schreiner warst.
Diese ganzen Erlebnisse verdanken wir Kinder einem großen Zufall: Mit 17 Jahren musstest du in den ersten Weltkrieg ziehen. Und weil das Glück auch dir nicht immer hold war, erlebtest du dort die Schlacht an der Somme. Das war die schwerste Schlacht mit den größten Verlusten auf beiden Seiten. Du wurdest durch einen Granatsplittereinschlag am Kopf schwer verletzt. Man lud dich auf einen Wagen, der Gefallene in Richtung Massengrab fuhr. Doch da entdeckte ein Sanitäter bei dir noch Lebenszeichen und holte dich von dem Wagen wieder herunter. Also haben wir alles, dass du damals am Leben geblieben bist, diesem aufmerksamen Sanitäter zu verdanken.
Weil das Leben damals vom Vereinsleben geprägt war, wurdest du, deinem Talent entsprechend, Turner. Du erzähltest uns von einer Aufführung, wo du als Dame verkleidet auf der Bühne erschienen bist, um einen Striptease hinzulegen. Als du dann in deinem Sportdress da gestanden hast, hast du auch noch eine Turnübung am Barren gezeigt. Obwohl wir das alles nur aus Erzählungen kannten, wussten wir, dass du ein vortrefflicher Turner warst.
Dann passierte jedoch folgendes: An deinem 60. Geburtstag wurde gefeiert. Die Gäste waren schon am Gehen, da stelltest du einen Stuhl auf den Tisch zwischen das ganze Geschirr und machtest, ohne Angst, ganz ruhig einen einwandfreien Handstand.
Du warst eben immer für eine Überraschung gut, lieber Papa.
Dein Sohn Richard