Blick zurück auf die Falknerei der Fünfziger Jahre
Eine Erinnerung von Winfried Klose
Wir kannten uns vom Herumstromern durch die Coburger Umgebung – in einer Zeit, in der uns fast alles erlaubt war. Nur die Amis hatten uns damals was zu sagen.
An einem Märztag in den fünfziger Jahren wartete ich mit drei mir bekannten Jugendlichen in der Nähe von Scheuerfeld auf einen ihrer Freunde, der sich mit Falknerei befasste. – Falken waren nach Brehms Tierleben Raubvögel, manche Jäger ballerten Schrot in ihre Nester, Falken wurden vielfach in Volieren nicht artgerecht gehalten. Der Trommer, so hieß der Falkner, galt als Pionier der Befreiung von Falken, er studierte Tiermedizin und hat später als Coburger Tierarzt das Buch „Greifenvögel“ geschrieben. Das waren einige Gründe, dass ich mich für Falknerei interessierte und mich einige von der Gruppe hin und wieder zu „Ausflügen“ mitnahmen.
Der Trommer stand dann plötzlich mit einem verkappten Vogel auf dem Handschuh hinter uns, die wir munter geplaudert hatten. Es war ein lauer Frühlingstag, dem – wenn ich mich richtig erinnere – ein fast pannonischer Sommer folgte. Der Himmel war nicht ganz klar, wir saßen in hohem gelbgrauen dürren Gras südlich vom Schindberg an der durch markante Baumriesen auffälligen Hangkante des Judenbergs. Der Acker vor uns war vor kurzem umgebrochen. – Aus den Mienen der anderen konnte ich lesen, es schien angebracht, nicht viel zu reden. Als der Trommer dem Falken die Verkappung abgenommen hatte, orientierte der sich nicht, wie ich das schon beobachtet hatte, durch ein Drehen des Kopfes. Er dehnte sich, flog zum nächsten Telegraphenmast und blockte auf, hielt von dort oben – keine fünfzig Meter von uns entfernt – kurz Umschau, ließ sich in die Schwingen fallen, schraubte sich mit schnellem, starkem Flügelschlag in zwei oder drei Kreisen hoch ins Helle und segelte pfeilschnell nach Osten. Wir sahen ihm eine Zeitlang nach, dann war er etliche hundert Meter entfernt – uns entschwunden. Keiner sprach, Günther Trommer vermutete ihn wohl auf einem der Hochhausgebäude (heute Studentenwohnheim) des Polytechnikums von Coburg. Wie gewohnt griff er zum Federspiel und ließ es kreisen. – Nach einer Zeit, Günther schien in keiner Weise über Falkos Ausbleiben beunruhigt, muss der Falke das Gebaren Trommers erkannt haben, er war dann plötzlich unweit von unserem Standort am Himmel erschienen, Wolf hatte ihn als erster gesehen. Es fiel kein Wort und alles ging sehr schnell. Schon hatte der Trommer das Federspiel Richtung Telegraphenmast geschleudert, als der Falke auf das Bündel noch in der Luft traf und mit ihm zu Boden ging. In einem Augenblick muss Günther – ohne dass wir es bemerkt hatten, die Finger am Kropf des Vogels – dessen Jagdkondition geprüft haben. Er verkappte wortlos den Falken. Für mich hieß das, wir waren heute wohl zu viele gewesen. Und schon war Günther verschwunden, ich erkannte seine Silhouette mit dem Vogel auf dem Arm auf einem Pfad nach Coburg.
Eine Zeit später, ich war wieder mal dabei, traute der Trommer sich, eine einiger Federn beraubte Taube in die Luft zu setzen und den jungen Falken, der die Taube von Anfang an im Auge hatte, nachzuschicken. Die Taube flatterte wie benommen los, für Falko ein leichtes Spiel, sie im Flug zu greifen. Er ging mit ihr nicht weit entfernt von uns zwischen Schollen des Ackers nieder.
Das Greifen einer Taube im Flug – der Trommer hatte eine Taube auf dem Federspiel befestigt und in die Flugbahn des Falken geschleudert – diese Szene hat mir Wolf in Details berichtet. Ebenso wie Falko einmal mit gefülltem Kropf irgendwo auf Hohenfels bis in die Nacht auf einem Ast verharrte und morgens verschwunden war.
Später – der Trommer ist längst gestorben – habe ich mich oft gefragt, was das Zurichten von Greifvögeln mit Günther wohl gemacht habe, zumal er später eine Auffangstation für Falken betreute, Spanien nach neuen Gesetzen zum Naturschutz mied und einige Male – schon damals – bei Potentaten , Liebhaber der Falknerei, in arabischen Ländern vorstellig geworden war.
Heute denken Vogelkundler über Falknerei vielfach anders.
Falknerei ist ein subtiles, gleichwohl grausames Zurichten von Greifvögeln, die Macht und Herrschaft von uns Menschen auf die Natur auszuweiten. Abgerichtete Falken haben es schwer, in ihren angestammten Biotopen wieder heimisch zu werden. Falken leben nach ihrem Instinkt, kennen kein Mitleid, kein Gefühl, abgerichtete Falken sind ihrer Natur entfremdet, von Menschen geprägt, spiegeln sie ihm sein Verhalten zurück. Falkner vielfach in der Faszination befangen, sich Listen auszudenken, wie Falken für uns Menschen jagen, töten, führen den Zauber der Falknerei vor, ihre Herrschaft über das Tier zu zeigen. Sie haben längst vergessen, dass die Falken sie genauso verwandeln. Wie sie den Falken mit diffizilen Zwängen, Verzicht, Tricks, technischen Finessen, Triebunterdrückung, wissenschaftlichen Kenntnissen… zurichten, sind sie dabei, sich selbst zuzurichten: Mit Verhärtung jeglicher Empfindsamkeit, den Willen eines Tieres zu brechen, mit erstorbenem Einfühlungsvermögen als Objekt zu benutzen, sich selbst aber zu behaupten, haben sie vergessen, dass der Weg, dem Gegenüber, dem Anderen mitfühlend den Vorrang einzuräumen, ein Schlüssel sein kann, das Fremde in seiner Fremdheit zu verstehen, es in seiner eigenen Herrlichkeit zu belassen, anzuerkennen.